Impuls zum 28. Dezember 2025
Von Wolfgang Kramer (Stuttgart), Kommission Friedenspolitik
Vorbemerkungen
Das deutsche Wort “heil“ bedeutet „unversehrt“ oder „vollständig“. Die Heilige Familie ist keines von beiden. Die Kirche feiert heute das Fest der Heiligen Familie, nicht das einer Heilen Familie. Denn diese Kleinfamilie war weder unversehrt noch vollständig: Ein alt gewordener Vater, der in Wirklichkeit gar nicht der Vater ist. Ein junges Mädchen, das vielleicht viel zu früh ein Kind bekommt. Eine zusammengeführte Gruppe, heimatlos, auf der Flucht, todesbedroht. Was daran ist heilig? Sie entspricht keineswegs einem bürgerlich tradierten Bild von Familie, wie es in Kirche und Gesellschaft lange Zeit verkündet wurde.
Seit Mitte des 19. Jahrhundert nahm die Verehrung der Familie Jesu einen weltweiten Aufschwung. Dies geschah aus Sorge um den Erhalt eines christlichen Familienverständnisses auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen des Industriezeitalters. Man sah in der Familie aus Nazaret ein Vorbild für das christliche Familienleben. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Fest der Heiligen Familie im Jahr 1920 von Papst Benedikt XV. verbindlich eingeführt und auf den ersten Sonntag nach Erscheinung des Herrn gelegt. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekam das Fest 1969 mit dem ersten Sonntag nach Weihnachten seinen heutigen Termin.
Da alle drei Perikopen dieses Sonntags dieselbe Thematik beinhalten, ist es sinnvoll, alle drei zu kommentieren mit dem Schwerpunkt auf das Evangelium.
Erste Lesung: Sir 3,2-6.12-14
Der Herr hat dem Vater Ehre verliehen bei den Kindern und das Recht der Mutter bei den Söhnen bestätigt. Wer den Vater ehrt, sühnt Sünden, und wer seine Mutter ehrt, sammelt Schätze. Wer den Vater ehrt, wird Freude haben an den Kindern und am Tag seines Gebets wird er erhört. Wer den Vater ehrt, wird lange leben, und seiner Mutter verschafft Ruhe, wer auf den Herrn hört.
Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an und kränke ihn nicht, solange er lebt! Wenn er an Verstand nachlässt, übe Nachsicht und verachte ihn nicht in deiner ganzen Kraft! Denn die dem Vater erwiesene Liebestat wird nicht vergessen; und statt der Sünden wird sie dir zur Erbauung dienen.
Familienstrukturen wandeln sich – Familienwerte bleiben
Familienstrukturen ändern sich im Laufe der Geschichte. Auf die Zeiten der landwirtschaftlich geprägten Großfamilie folgte die Zeit der intensiv gelebten Kleinfamilie. Heute geht der Trend zu Patchworkfamilien, zu Regenbogenfamilien und auch wieder zu „Mehrgenerationen-Gemeinschaften“. Die Entwicklung scheint unaufhaltsam zu sein. Die Familienwerte aber bleiben oder werden zumindest angestrebt. Der Verhaltenskodex aus dem etwa 2.200 Jahre alten Buch Jesus Sirach mach das deutlich: Gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung vor dem Wert und der Würde eines jeden Menschen sind das Fundament jeder menschlichen Gemeinschaft – und damit auch der Familie. Auch wenn die beschriebenen Verhaltensweisen nicht mehr so recht unserem Familienverständnis heute entsprechen, sind jedoch die genannten Grundhaltungen wichtiger denn je. In einer Zeit, in der die Demenzerkrankungen immer mehr zunehmen, ist die Aufforderung, Verantwortung für die betagten Eltern zu übernehmen – wie sie im letzten Abschnitt des Textes zum Ausdruck kommt – hoch aktuell.
Zweite Lesung: Kol 3,12-21
Bekleidet euch, als Erwählte Gottes, Heilige und Geliebte, mit innigem Erbarmen Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt einander und vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat! Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Vor allem bekleidet euch mit der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist! Und der Friede Christi triumphiere in euren Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!
Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. In aller Weisheit belehrt und ermahnt einander! Singt Gott Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder in Dankbarkeit in euren Herzen! Alles, was ihr in Wort oder Werk tut, geschehe im Namen Jesu, des Herrn. Dankt Gott, dem Vater, durch ihn!
Ihr Frauen, ordnet euch den Männern unter, wie es sich im Herrn geziemt! Ihr Männer, liebt die Frauen, und seid nicht erbittert gegen sie! Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem, denn das ist dem Herrn wohlgefällig! Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden!
In euren Herzen herrsche der Friede Christi
So wohltuend die ersten beiden Abschnitte der Lesung erscheinen, so problematisch scheinen die Verse des dritten zu sein. Unterordnung und Gehorsam, das geht mit einem neuzeitlichen Familienverständnis nicht einher. Die Aussagen stammen aus einem ganz bestimmten geschichtlichen Kontext, verneinen aber nicht die bleibenden Werte menschlichen Zusammenlebens. Wenn in den Herzen der Friede Christi herrschen soll, können diese zunächst befremdlichen Aussagen auch positive Aspekte beinhalten: Zusammenleben in einer Familie bedeutet auch, aufeinander zu hören, sich gegebenenfalls auch einmal dem anderen bzw. der anderen und seinen bzw. ihren Interessen unter zu ordnen und keinesfalls das eigene Interesse ohne Einvernehmen durchzusetzen versuchen. Ohne eigene Wünsche auch einmal zurück zu stellen, ist ein gedeihliches Zusammenleben in der Familie nicht möglich.
Im Ganzen geht es dem Text um die Verwirklichung der Liebe Gottes zu den Menschen. Wo Menschen sich gegenseitig Liebe schenken, lassen sie etwas von der Liebe Gottes erfahrbar werden. Das ist Christinnen und Christen aufgetragen. Ein hoher Anspruch! Deshalb auch die Mahnung zu Geduld, Nachsicht und gegenseitiger Vergebungsbereitschaft.
Evangelium: Mt 2, 13-15.19-23
Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, siehe, da erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.
Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.
Als Herodes gestorben war, erschien dem Josef in Ägypten ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und zieh in das Land Israel; denn die Leute, die dem Kind nach dem Leben getrachtet haben, sind tot. Da stand er auf und zog mit dem Kind und dessen Mutter in das Land Israel; denn die Leute die dem Kind nach dem Leben getrachtet haben, sind tot. Da stand er auf und zog mit dem Kind und dessen Mutter in das Land Israel.
Als er aber hörte, dass in Judäa Archelaus an Stelle seines Vaters Herodes regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum einen Befehl erhalten hatte, zog er in das Gebiet von Galiläa und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder.
Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er wird Nazoräer genannt werden.
Gott braucht Menschen wie Josef
Herodes löst mit seinem Herrschaftswahn eine Unheilsgeschichte aus. Die junge Familie ist zu Flucht, Heimatlosigkeit und Fremdheit gezwungen. Keine Familienidylle mit einem neugeborenen Kind, sondern Angst und Entbehrung. Und doch ist Herodes nicht Herr der Geschichte, sondern nur ein Akteur in einem viel größeren Zusammenhang der Heilsgeschichte Gottes. Damit sich diese gegen einen menschenverachtenden Machtapparat durchsetzen kann, braucht Gott Menschen wie Josef. Josefs Lebensplan hat sicher einmal anders ausgesehen. Matthäus zeigt einen Mann, mit dem Gott seine Pläne verwirklichen kann. Wir sehen ihn zumeist als schwach und unbedeutend an. In der Kunst wird er als alter Mann dargestellt. Doch Josef ist sensibel und hellhörig, traut der inneren Stimme und handelt entschieden. Was Gott dem Josef im Traum mitteilt, das befolgt dieser ohne Wenn und Aber. So kann Gott zum Zuge kommen und lässt Wunderbares und Großartiges geschehen: Neue Lebensmöglichkeiten für die junge Familie.
Jesus als Flüchtlingskind
Was das Matthäusevangelium in wenigen Worten zusammenfasst, ist eine lange Geschichte: Fluchtwanderung nach Ägypten und nach einiger Zeit wieder zurück. Doch von den Beschwernissen dieser Reise und von der Aufnahme im Zukunftsland wird nichts berichtet. Entscheidend ist, dass zur Menschwerdung Gottes auch das Ausgesetzt-Sein gehört. Das Wunder der Menschwerdung bekommt ganz reale Bezüge: Als jemand, der in der Fremde in einem Stall geboren und in eine Futterkrippe gelegt wurde und dann als Baby mit seinen Eltern nach Ägypten fliehen musste, steht Jesus von Anfang an auf der Seite der Verfolgten, Geflüchteten, Armen und Entrechteten aller Zeiten.
Jesus als Flüchtlingskind zu sehen, ist eine Perspektive, die in unserer Zeit, in der die Zahlen der Vertriebenen und Geflüchteten an so vielen unterschiedlichen Orten weiter ansteigen, besonders gut passt. Die Vertreibung der Heiligen Familie nach Ägypten steht symbolisch für das Schicksal jeder Familie und jedes Einzelnen, die auf der Flucht sind. Sie fordert aber auch alle, die in der Nachfolge Jesu leben dazu auf, Flüchtlinge gastlich aufzunehmen und ihnen zu helfen, Lebensperspektiven zu ermöglichen.
Die „Heilige Familie“ ist keine „heile“ Familie
„Heilig“ ist etwas anderes als „heil“, auch wenn beide Wörter eng verwandt sind. Heilig bedeutet nicht „unversehrt“ oder „vollständig“ oder „vollkommen“, sondern „Gott zugehörig“. Heilig ist, was Gott zu seinem Eigentum angenommen hat. Heilig ist, wen Gott unter seinen Schutz gestellt hat. Die Familie Jesu ist heilig, weil Gott sie als sein Eigentum angenommen hat. Josef stellt Maria und das Kind unter Gottes Schutz. Nicht dem König Herodes, sondern Gott ist diese Familie „ausgeliefert“. Die Heilige Familie ist gleichsam hinein getauft in die neue Gemeinschaft mit Gott, dem Ursprung und Ziel allen Lebens.
Die „Heilige Familie“ ist keine „heile“ Familie. Wer sie mit einer gutbürgerlichen Bilderbuchfamilie gleichsetzen will, hat die Aussagen der Evangelien über die Familie Jesu nicht richtig begriffen. Andersherum gesehen: Jede Familie darf sich von der „Heiligen Familie“ in ihren alltäglichen wie auch in ihren schweren Sorgen verstanden fühlen. Jede Familie, in der Gott fest verankert ist, ist gewissermaßen eine „heilige“ Familie.
pax christi als „Familie“
Gesellenvater Adolph Kolping sah in der Heiligen Familie einen Lernort, wie aus Lebensbrüchen, aus Streit und Auseinandergehen durch Verständnis und Liebe Heilung entsteht. Die an seinen Idealen orientierten Gemeinschaften nennen sich Kolpingsfamilien. In der pax christi-Bewegung, in ihren Kommissionen und Gruppen sehe ich auch eine familienartige Sozialstruktur, in der es wesentlich darum geht, die unterschiedlichen Positionen zu respektieren, die unvermeidlichen Konflikte gewaltfrei und geschwisterlich zu lösen und bei Verletzungen Versöhnung anzustreben. Tun wir alles dafür, diesen hohen Anspruch einzulösen!
Vater unser (in der persönlichen Fassung von Wolfgang Kramer)
Mutter und Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Heilswille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Gib uns heute das Brot, das wir brauchen.
Und vergib uns unsere Schuld, damit auch wir vergeben können.
Führe uns in der Versuchung und erlöse uns von allem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Zärtlichkeit in Zeit und Ewigkeit. Amen.
Text zum Nachdenken
Die Mutter, der Vater, das Kind, die heilige Familie, vergiss, was du über sie gehört hast; denn sie war eine ganz und gar normale Familie … Wenn du über sie etwas wissen willst, schau in die eigene Familie und denke nach über das, was du dort erlebst: Verstehen, Enttäuschung, Zuneigung, Ablehnung, Trennung, Umarmung, Zorn, Liebe. Vergleiche dich mutig mit ihr und halte dich nicht für schlechter. Vergiss, was du über sie gehört hast. Sie war eine ganz
und gar normale Familie; deshalb halte sie heilig.
Wilhelm Bruners, kath. Theologe und Dichter